Es ist immer noch eine schreckliche Stadt. Immer noch bestätigen sich Indonesier, Europäer und Australier mit geneigten Köpfen und verständnisinnigen Lächeln bei jeder Konversationsgelegenheit, dass es nirgendwo anders so übel sein könne wie im in alle Himmelsrichtungen sich fräsenden 20 Millionen Moloch Jakarta. Und dennoch legt sich ganz langsam noch ein anderer Eindruck über den der verstopften und verpesteten Straßen mit den brennenden Müllhaufen, den Fallgruben und langsam wandernden Kakerlaken. Und das ist die unerschöpfliche Energie derer, die hier leben. Diese Energie kommt überall zum Ausdruck in der von Hitze und Staub kochenden und in der Dunkelheit wie wahnsinnig leuchtenden Stadt, am meisten aber vielleicht in den Körpern der jungen und nicht mehr so jungen Männer, die hier Tag und Nacht arbeiten.
An den riesigen Straßen rennen sie entlang mit ihren kleinen Buden auf zwei Rädern, in denen die Gerätschaften für gebratene Tofustückchen oder Obsttütchen oder Nudelsuppe festgeklemmt und mit wenigen Handgriffen auf- und abzubauen sind, dort, wo es vielleicht ein Geschäft zu machen gibt. Sie rennen mit nackten Beinen, gespannten Oberarmmuskeln und entschlossenen Gesichtsausdrücken und schieben dabei ihre ganze mit wenigen Lämpchen erleuchtete Einquadratmeterexistenz vor sich her. Es ist nie zu sehen, wo diese Wägelchen herkommen und wohin sie verschwinden, überall stehen sie plötzlich und preisen mit roten und gelben Buchstaben auf den Scheiben ihre einzige Ware an. Und dann sieht man sie wieder in Bewegung, auf ihrem Zug durch die Stadt von morgens bis abends, angetrieben und in Schwung gehalten von der ganzen Kraft eines einzigen Mannes.
Auch die Stadt selbst scheint jeden Tag wie von einer riesigen Kurbel immer weiter umgewälzt zu werden. Die drei Hotelportiers hatten sich bei Anblick der mühselig erworbenen Jakarta-Postkarten in die Seiten gestoßen, gegrinst und mitleidig „80er Jahre“ gesagt. Und natürlich ist von den schon damals zart verstört erscheinenden blauen Himmeln und gelbstichigen Gebäuden nichts mehr übrig. Gebaut wird nun an Hochhausburgen die sich Rasuna Epicentrum, The Grove oder Plaza Indonesia nennen und an deren verheißungsvoll im Wind sich blähenden Bauplanen Dinge stehen wie: Urban life is about to change. Behind this wall we will forgive you for thinking that life is a beach. Die hier beschäftigten Tausend kleinwüchsiger zarter Bauarbeiter kämen nicht auf die Idee, Life und Beach zu verwechseln. Aber die Bauhelme sitzen ihnen locker im Nacken, die Plastiksandalen locker an den Füßen und sie halten die Schweißgeräte, die Lenker ihrer Mofas und die Henkel ihrer Mittagstüten mit der gleichen Nonchalance Und dann schuften sie mit gekrümmten Körpern unter den Scheinwerfern großer Hebekräne bis tief in die Nacht. Ganze Stockwerke, so scheint es, entstehen und vergehen in vierundzwanzig Stunden, Gehsteige werden aufgerissen und neu verlegt, Mauern quer über die Straßen gebaut, abgebaut, umkonstruiert. Eines Morgens liegt ein verrostetes Federmesser auf dem Balkon, man kann nicht erkennen, wo es herkommen soll aus all dem Stahl und Stein. Vom Himmel gefallen während der unermüdlichen und unverdrossenen Anstrengung eines immer höher Hinaus.
Am schönsten aber sind die Buskontrolleure, die keine Buskontrolleure sind, sondern Cowboys der Schnell- und Ausfallstraßen. Auf die Busse muss man aufspringen. Die 17 in Richtung Cikini, die 20 die Jl. Rasuna Said hinunter oder die 46 die Gatot Subroto hinauf. Chinesischer Bauart und viele Jahrzehnte alt, wälzen sie sich heran und verlangsamen, wenn man das richtige Handzeichen gegeben hat, in der Mitte der Straße nur so gerade eben die Fahrt. In beiden offenen Türen stehen die Cowboys mit um den Kopf oder den Hals geschlungenen Handtüchern, eine oder zwei Zigaretten im Mundwinkel und ins Ohr gesteckten Geldstücken. An den Haltestangen des Busses hängend, kommen sie herangesegelt, ihre dreckigen T-Shirts flattern im Wind und mit dem Wind reißen sie auch die sich über die Straße Durchgekämpften in den Bus. Dann schmettern sie ihr „Lurus!“ wie einen Peitschenschlag und die Fahrt beschleunigt wieder.
„Lurus!“, geradeaus!, auf der zweiten Silbe betont und sowieso kaum prononciert, ein kehliges uuh-uh quer über vier Spuren hinweg und bis nach vorne zum Busfahrer, „Lurus!“ der Schlachtruf der Straße. Mit „Lurus!“ wird der Busfahrer angestachelt, der das Gaspedal durchtritt, mit „Lurus!“ sollen die anderen Autofahrer weggetrieben werden, „Lurus!“ deutet den Fahrgästen an, dass umgehend wieder volle Fahrt aufgenommen wird. Dann machen sie sich auf ihren Weg durch den Bus. In der einen Hand ein Geldbündel, in der anderen ein paar Münzen, Handtuch um den Kopf geschlungen, Zigarette im Mundwinkel. Reden tun sie nicht. Sie heben nur die Hand mit den Münzen und schütteln sie am Ohr der neu Eingestiegenen. Das ist das Zeichen, 2000 Rupien hervorzuziehen, die sie, immer noch wortlos, glätten und zu ihrem Geldbündel stecken. Sie schauen kaum auf und verlieren doch nie den Überblick, wer bezahlt hat, wer nicht. Mit den Schultern stoßen sie sich durchs Gewühl, lassen ihre Münzen scheppern und hängen dann wieder an den Stangen der Einganstüren: „Lurus!“ Manchmal gießen sie Flüssigkeiten in den Bauch des unter ohrenbetäubendem Lärm voran galoppierenden Busses, manchmal wechseln sie ein paar Worte mit dem Fahrer, dann werfen sie sich wieder auf die Straße. Dort rufen sie die Ziele der Busse in den Verkehr, manchmal klingt es auch nur wie ein Yippieh-hei-ho, während ihre Lassos durch die Nachtluft jagen. Wieder kämpfen sich ein paar Fahrgäste bis zum Bus durch, und sie stürzen aus den Türen, halten mit ein paar Bewegungen der Arme den Verkehr an, in einer Hand die Geldscheine, in der anderen die Münzen, Zigarette im Mundwinkel, zerrissene Jeans und Geldstücke im Ohr. Will man aussteigen, schlägt man entweder selbst mit der Faust gegen das Dach des Busses oder man winkt dem Cowboy und der nimmt eine seiner Münzen und schlägt ein kleines Klingklang an die Haltestange bis der Bus langsamer tobt und man selbst einmal tief Atem geholt und sich auf die Straße hat fallen lassen. Im roten Rücklichtermeer sieht man dann nur noch die gen Himmel gestreckten braunen Arme und das flatternde T-Shirt: „Lurus!“