Schon sechs Paar Schuhe ruiniert.
Schuhe mit losgetretenen Riemen und losgetretenen Sohlen und abgebrochenen
Absätzen, in die das braune Wasser der Regenzeitpfützen eintritt. Weder die
Lederschuhe aus Hamburg, noch die Sandalen aus Rom, noch die roten und silbernen
Schühchen aus Bandung, noch die Turnschuhe aus Singapur konnten die Kraftprobe
mit dem Jakartaer Pflaster bestehen. Abgewrackt allesamt, geben sie Zeugnis von
einem aufrichtigen Kampf. Aber nun wird gehumpelt, tapfer zwar, aber chancenlos.
Und - die Metapher gleich ausnutzend – ähnlich
chancenlos ist gerade der immer neue Anlauf, die Geschichten des Landes zu
verstehen: beim Lesen der Bücher und beim Filmesehen. Wie lange es dauert, bis
man durch das Dickicht dessen, was man kennt, hindurch ist und anfangen kann,
vorsichtig mit dem Finger auf seine Fragen zu zeigen.
Ich lese die Buru-Tetralogie von
Pramoedya Ananta Toer, des berühmtesten indonesischen Schriftstellers und
verstehe, neben vielem anderen, vor allem das Tempo der Erzählung nicht. Es
geht um den Eingeborenenjungen Minke, der um die Jahrhundertwende im Java der
holländischen Kolonialmacht seinen Weg als Journalist und Schriftsteller zu
machen sucht. Neben dem glücklich machenden Leseerlebnis, alle
Vorstellungskräfte anspannen zu müssen, um den japanischen Prostituierten, schwarzen
Kämpfern aus Madura, holländischen Backenbartbürokraten und barackenbeheimatete
Mischlingsfamilien einer fremden Welt und Zeit folgen zu können, rebelliert die
Lesegewohnheit zugleich gegen die enervierende Langsamkeit Minkes, des
Ich-Erzählers. Immer wieder kreist er um die gleichen Fragen, immer wieder hat
er die gleichen Zweifel, und manchmal ertappe ich mich bei einer
Korrekturleserinnendeformation und überlege, welche Sätze man streichen müsste,
damit die Erzählung nicht dauernd stecken bleibt. Das hast du dich alles schon
mehr als einmal gefragt, Minke, und wir wissen alle schon, dass du der Gute
bist, also nu man los. Nur sehr
allmählich lassen sich diese immer wiederkehrenden, tastenden Sätze als langsamer
Gedankenkreisel ausmachen, auf dem, wie früher auf dem Disneykinderkreisel, die
Bilder von Minkes zukünftiger Entwicklung erscheinen und verschwinden und
erscheinen und dann erst die Geschichte weiterlaufen lassen. Ein
Bildungsroman im Rhythmus’ von drei Schritten vor, zwei Schritten zurück und
dann drei Mal im Kreis; jeden Tag muss ich mich neu auf dieses ganz fremde
Lesetempo einlassen.
In Jakarta ist Internationales
Filmfestival, ich lese das Programm nicht richtig und lande in der
Mittagsvorstellung eines indonesischen Films ohne Untertitel. Jakarta
Undercover. Ein Nacht- und Großstadtfilm über eine Tabledancerin, die aus Zeit-
oder Babysitternot ihren kleinen Bruder in einem Nachtklub versteckt, wo er
Zeuge des Mordes an einer Prostituierten wird. Dreiviertel des Films sind die
Tabledancerin und der kleine Bruder auf der Flucht vor den drei Mördern, die in
einem schwarzen Benz die Jagd aufgenommen haben. Der Film ist schnell und gut
geschnitten, voller fantastischer Nachtbilder der glosenden Stadt, ich kann der
Geschichte ungefähr folgen und will nun Details deuten. Warum sind zum Beispiel
am Anfang im Nachtklub dauernd Zungen zu sehen. Die Tabledancerin leckt die
Stange ab, um die sie sich mehr oder weniger verführerisch gewickelt hat, und
auch die drei Bösen, die sich hier allmählich sexuell aufgeilen, lassen permanent
ihre Zunge über den Bildschirm fahren. Zeichen in einem Land, in dem sich in
der Öffentlichkeit nicht geküsst wird, für den moralischen Verfall? Oder
Imitation dessen, was im Westen so im Allgemeinen für erotisch gehalten wird?
Die Bösen fluchen auf Englisch, fuck, shit, fuck you, fucking shit man, hier
kann ich endlich sprachlich folgen. Ergo, das Böse spricht Englisch, oder gibt
es auf Bahasa Indonesian keinen äquivalenten Ausdruck für fuck you? Oder sollen
die drei, harte Kerle aus dem Geldadel, einfach als besonders cool dargestellt
werden? Und warum lacht das ganze Publikum aus vollem Hals, als am Anfang ein
Transvestit brutal zusammengeschlagen wird?
Klar ist allerdings, dass von der
Polizei keine Hilfe zu erwarten ist. Als die Tänzerin, völlig erschöpft und
runter mit den Nerven mit dem kleinen Bruder unter dem erleuchteten Eingang
einer „Polisi“-Station ankommt, weigert sich der kleine Bruder, auch nur einen
Schritt weiter zu gehen. Stur stemmt er die Beine in den Boden bis die
Schwester aufgibt und sie ihre einsame Hetze wieder aufnehmen. Und als einer
der Bösen wegen zu schnellen Fahrens von der Polizei angehalten und aus dem Wagen
gebeten wird, jubelt das Publikum, als er sich mit der Hand an das rechte
Rücklicht tastet, eine Geldrolle hervorzieht und damit den Polizisten sogleich
zum Schweigen bringt. Zum Schluss werden die Geschwister nicht von der
Gesetzesmacht, sondern von den Medien gerettet. Die Tabledancerin kidnappt eine
Reporterin, vor laufender Kamera erzählt sie ihre Geschichte, die Bösen bleiben
im Stau stecken, der Übertragungswagen rast davon, sie ist im Fernsehen und gerettet. Ich bin erleichtert über das sich abschließend doch noch so komfortabel anbietende Deutungsmuster; unverdrossen mit roten und silbernen Plastikschühchen gegen fremdes Pflaster anrennend.