Alles voller Ziegen. Angebunden am Straßenrand oder auf Motorrädern zusammengeklappt durch die Gegend und zur Moschee gekurvt. Dort werden sie von Kindern mit Kräuterbüscheln gefüttert, und dort finden sie auch ihr Ende am 19. oder 20. oder 21. Dezember. Idul Adha ist da, der islamische Feiertag, an dem Ibrahims (Abraham) Beinahe-Schlachtung von Ismail (Isaak) gedacht wird. Zur Feier der göttlichen Verhinderung dieser Tat werden Ziegen und Kühe gespendet, die in den Moscheen rituell geschlachtet und an Bedürftige verteilt werden. Die Istiqlal Moschee gibt Donnerstagmorgen zufrieden bekannt, sie habe schon 16 Kühe und 26 Ziegen erhalten und erwarte bis zum Ende des Tages weitere 100 Ziegen vom United Islamic Cultural Centre of Indonesia.
Ein bisschen sehnsüchtig laufen wir durch die Stadt, Sergio und ich, wollen irgendwie teilhaben am Feiertag, wollen etwas sehen, ohne zu wissen, was genau und wo genau. Aus einem Roman erinnere ich sprudelndes Blut auf den Straßen Teherans, und Ziegen denen von geübten Fingern und Messern die Kehle durchgeschnitten wird; das andere und fremde Heilige sehen wollen und wie es zelebriert wird. Vor den armen kleinen Moscheen des kampongs zu Füßen unserer Hochhaussiedlung, deren blinkenden und blechernen Türmchen sich nichtsdestotrotz jeden Morgen um vier ein markerschütterndes Allahu akbahr entringt, liegen auf Persenningen ausgebreitet kleine Fleischklumpen. Sie sind gleich groß und liegen in regelmäßigen Abständen voneinander; ein Brettspiel aus Fleisch, das nach und nach in kleine schwarze Plastiktüten verpackt wird. Wir fahren zur Istiqlal Moschee im Zentrum Jakartas, der größten Moschee Südostasiens. Die Straßen sind leerer als sonst, seit Wochen Regenwolken schwer über der Stadt. Auch vor und in der Moschee, in der am Morgen noch 200.000 Leute zum Gebet versammelt waren, tut sich nicht viel. Ein paar der angekündigten Kühe grasen nichts Böses ahnend vor sich hin, vor uns türmt sich die Moschee hässlich wie ein sowjetischer Bunker auf und kündigt die folgende Enttäuschung schon an. Denn auch wenn wir freundlich von verschiedenen barfüßigen Männern, die uns wie ein Staffelholz übergeben, durch nichts sagende marmorstelerne Gänge geführt werden, dürfen wir uns den Hauptraum der Moschee nur von der Balustrade aus ansehen, „only for muslim“. Nachdem Moscheenbesuche im Nahen Osten zu den zärtlichsten Reiseerinnerungen überhaupt gehören, die vielen Mädchen und Bonbons in Syrien, Sonjas und mein Nickerchen inmitten der weichen Teppiche der Ibn Tulun Moschee hoch über Kairo, will ich es nicht glauben. Das Gesicht des Führers bleibt ungerührt, „if you are muslim, please“. Ernüchtert treten wir zurück, rausgekickt, nicht mitspielen dürfen. Ein kleiner Trost ist der Pförtner, bei dem wir uns mitsamt unserer Religion ins Gästebuch eintragen sollen. Er fällt Sergio aufgrund seiner Nationalität fast um den Hals, holt sofort seine Fußballzeitung raus und zeigt glücklich alle Seiten vor, für die das indonesische Sportblatt eine Lizenz der Gazetto dello Sport erworben hat. Er ist ein bisschen enttäuscht, als der ihm so unverhofft geschenkte Italiener wie üblich außer „yes, AS Roma“ und „yes, Totti“ nichts beitragen kann und liefert dennoch ein Gefühl des Willkommenseins nach, das die Moschee verweigert hatte.
Gemeinsam mit Idul Adha werden auf den Lichtergirrlanden in den Straßen Weihnachten und Sylvester schon mal mitbegrüßt und mitgefeiert: „Selamat Idul Adha, selamat natal dan tahun baru 2008“. Menschen, die ich nur einmal getroffen habe, ob muslimischen oder christlichen Glaubens, schicken SMS mit Sternen und Zweigen und wünschen alles Gute. Wir hingegen beschließen, das Weitwegsein auszunutzen und es dieses Jahr ausnahmsweise locker angehen zu lassen. Keine Kerzen, keine Karten, keine Kekse, keine Kalender, Weihnachtsmorgen in der Sonne auf dem Balkon und die Weihnachtsnacht vertanzt.
Vera und Valentina, zwei italienische Streicherinnen des Luxushotels Senayan Mulia, wollen uns die Jakartaer Nacht zeigen. Zu viert spielen sie jeden Nachmittag von vier bis acht in schulterfreien Kleidern in der Lobby. Ein bisschen Tschaikowsky, ein bisschen Mozart, ein bisschen O sole mio, auf Befehl des Managements seit ein paar Tagen auch Jingle Bells. Nach acht Monaten Engagement hat noch nicht ein Gast etwas zur Musik gesagt, aber sie wohnen in den gleichen Suiten und dürfen die gleichen Swimmingpools und auch das Buffet mit der Schokoladenfontäne mitbenutzen. So führen sie uns auch zuerst in den hauseigenen Club des Hotels, der zum Zeichen des Luxus auf nahezu unerträgliche Temperatur heruntergekühlt ist. Das scheint die hier versammelten wunderschönen Asiatinnen nicht zu stören. In Neid erregenden Miniröcken und hals-, schulter- und rückenfreien Oberteilen beweisen sie sich gegen die Kälte, liegen halb über den den Raum dominierenden glühenden Marmortresen, auf denen Champagnerkühler und Jack Daniels Flaschen stehen. Wie teuer alle aussehen. Auf der Bühne tobt eine Art Boygroup-Programm, allerdings haben sie eine Leadsängerin, die in einen rotweißen Weihnachtsfummel gezwängt ist und ihre Mähne wie Shakira schüttelt. Vera brüllt mir die Biographien der einzelnen Bandmitglieder ins Ohr, die hier, wie die Streicherinnen am Nachmittag in der Lobby, jeden Abend das gleiche Programm durchziehen müssen. Ihr Erfolgsgeheimnis liegt in der aggressiven Energie, die sie unaufhörlich über die Rampe in den Raum peitschen. Große weiße Männer mit ungelenken Oberkörpern und Asiaten in dunklen Hemden umwerben dabei tanzend Frauen, die, so stelle ich mir vor, morgen früh alle mindestens eine zarte Cartier-Armbanduhr unterm Kopfkissen liegen haben, for you, darling.
Im Taxi fahren wir nach Glodok, in den Norden der Stadt, zum Stadium. Vor dem Eingang eine ganze Horde Türsteher und Bettler. Ausgestreckte kleine braune Hände, die dazugehörenden Füße stehen nackt in den Regenpfützen, aus miserablen Bauchläden werden Zigaretten und Feuerzeuge angeboten. Dieselben Zigaretten und Feuerzeuge liegen später auf den VIP-Tischen hoch über der Tanzfläche, über welcher ein riesiges Einhorn ins Nichts der roten und grünen Laserlichtspiele und die Schallwellen der Housemusik fliegt. Nur eine Disko. Auch hier Frauen mit nichts als engen Hemden und hohen Stiefeln bekleidet, die von Schoß zu Schoß der VIP-Tisch-Angehörigen, keiner älter als 25, weitergereicht werden. Sie klammern sich an die Balustrade und schütteln die Köpfe im Takt der Musik. Ein Stockwerk, mit Separees auf denen zwar Karaoke steht, die sich aber, als wir eine Tür öffnen können, nicht nur mit riesigen Fernsehern, sondern auch mit ebensolchen Betten ausgestattet finden. Nur ein mäßig kaschiertes Bordell. In einem weiteren Raum rast eine diesmal als Girlies dekorierte Band, aus einem anderen schauen vier in Altrosa gekleidete Indonesierinnen, alle halten in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Skatblatt. Nachtgestalten.
Ein anderes Taxi, ein anderer Stadtteil, ein anderer Eingang. Andere Bettler, die insistieren, dass die aus und in die Taxis Steigenden ihrer gedenken. Three horses, die Diskothek der arabischen Kaufmannschaft. Auf der Tanzflaeche forciert einer davon seine Zentner in Richtung meines Körpers. Als Sergio ihm mit einer Handbewegung höflich anzudeuten versucht, dass das eher nicht angebracht sei, breitet der Dicke die Arme aus, umklammert Sergio, hebt ihn in die Luft und küsst ihn ab. Damit ist das erledigt, aber die Frauen werden immer mehr. Diesmal eindeutig: Weibliches Fleisch auf der Tanzfläche, das hier erst umtanzt und betastet und dann weitergegeben wird, bis, ich verstehe nicht wie, der Deal abgeschlossen ist. Ich sehe eines der Mädchen ankommen, jung, schön, tot im Gesicht, es dauert vier Männer, dann ist sie bei ihrer Bestimmung des heutigen Abends angekommen. Eine andere streicht mir übers Kinn, lieblich, mütterlich, come dance. Die Tanzfläche auf der die arabischen Männer so ausgelassen miteinander tanzen, wie nur arabische Männer miteinander tanzen können, ist klein im Verhältnis zum Rest des stockdunklen Raumes, wo im Halbschatten halbseidene Dinge vor sich zu gehen scheinen. Ist das ein Blowjob oder ist sie bloß auf dem Schoß ihres Partners kollabiert. Im Auto werden Vera und Valentina sich spaeter in Maedchenart darueber auslassen, wie wuest es dort immer hergehe und dass man mit den Arabern aufpassen muesse. Dabei sind es, das haben die paar Monate in der Expatgemeinde schon deutlich gemacht, ja gar nicht die Araber. Es ist vielmehr die abendliche Entfesselung einer Enklave, die gleichzeitig verwirrt und genussvoll das Weitwegsein von den Regeln des eigenen Stamms zelebriert. Und mir faellt zusammenhangslos oder nicht ein, wie die Damen von der deutschen Exilantenorganisation erzaehlten, dass die Neuankoemmlinge am Anfang immer Probleme mit den Dienstboten haetten, weil sie nicht wuessten, wie sie mit ihnen umgehen sollten. Und wie selbstverstaendlich mir dann am Ende des Interviews eine von ihnen ihren Fahrer angeboten hatte, der draussen in der Sonne auf unbestimmte Zeit auf seinen naechsten Befehl wartete. Die billige menschliche Arbeitskraft ist zu etwas Selbtsverstaendlichem geworden, es stellt sich nicht mehr die Frage, ob man das zuhause auch so machen wuerde, sondern alles wird nur eine Frage der Gewoehnung. Das Weitwegsein von den Regeln des eigenen Stamms.
Als schließlich im arabischen Club noch eine Schlägerei ausbricht und in den aufflammenden Neonlichtern alle demaskiert, halbnackt oder mit Blut in sich lichtenden Stirnen einander anstieren, befinden wir das Weihnachtskontingent fuer erfüllt. Fahrt durch die gelbgrau heller werdende Stadt nach Hause.