Namen sind ein Problem in China, keine Frage, also chinesische
Namen für westliche Ohren, meine. Denen geht es gewöhnlich so, dass sie beim
Kennenlernen – wiewohl vorbereitet und sozusagen in Alarmbereitschaft – zwar
vernehmen, dass da was auf sie zukommt, die Silbengirlande, die schliesslich im
Hörzentrum eintrifft, aber nicht zu entwirren vermögen. Da hilft das Wissen
darum, dass in China der Nachname zuerst genannt wird, auch nicht viel. Und dass
es etwa 700 Familiennamen geben soll (für ein Volk von über 1.3 Milliarden!) – von
denen lediglich um die 20 sehr beliebt sind – ist auch nur auf den ersten Blick
hilfreich. Einer begrenzten Auswahl von Familiennamen steht nämlich ein Heer
zig zehntausender Zeichen gegenüber, die sich zu unendlich vielen Personennamen
fügen lassen. Aber auch das ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist so
einfach wie beschämend: Entweder ich verstehe die Namen nicht richtig oder ich kann
sie mir nicht merken.
Jetzt sind Chinesen aber gemeinhin sehr freundliche und
zuvorkommende Menschen, wissen um unsere Schwierigkeiten und geben sich daher
simple westliche Namen. Wie Lucy, Peggy, Sally, Sue … Michael, Brandon, Harry,
Lou … oder – so in einer ausschliesslich aus Chinesen bestehenden Deutschklasse,
die ich vor Jahren in Basel unterrichtete – Heinz, Hans, Horst usw., ich habe
nie rausbringen können, warum um die zwanzigjährige Chinesen ohne Not solch
altmodische Namen wählten.
Wie auch immer, in Shihezi ist mir erst spät eingefallen, diese
Hilfsbereitschaft zu erwidern und mir meinerseits einen schönen chinesischen
Namen zu geben. Dafür habe ich jetzt gleich mehrere. Einmal «aò lì fú»,
den ich auf der Suche nach «Oliver» über die sehr praktische Website www.chinesisch-lernen.org
ermittelte, wo man auf http://www.chinesisch-lernen.org/vornamen/suche.html
seinen Vornamen auch geschmackvoll kalligraphieren lassen kann.
Dann wurde mir von meinen Studenten ein ganzes Namensset
verliehen, was freilich erst nach reiflicher Überlegung und eingehender
Beratung geschehen konnte … bis dann vom Klassensprecher feierlich verkündet
wurde, dass man Wáng Lì Yán für angemessen halte. Was «König», «stehen»,
«Fels»
bedeutet, man stelle sich also einen König (mich) vor, der von einem Fels herab
sein Reich überblickt. Oder sehnsüchtig in Richtung der Heimat Ausschau hält,
womit wir beim dritten Namen wären. Der wurde von meiner Chinesischlehrerin Pei
Bei angeregt und ist das chinesische Wort für Olivenbaum: gǎnlǎnshù.
In einem Lied gleichen Titels, das ich auch Pei Bei zu
verdanken habe, geht es um einen Olivenbaum, der fern der Heimat herumzieht,
obdachlos ist (wie die meisten Bäume) und gleich am Anfang sagt: «Frag nicht, woher ich komme.» Ich werde nicht müde, dieses Lied – das, man
mache sich nicht über mich lustig, schmerzensschön und von einigem Pathos
durchtränkt ist – zu hören und mir dabei nun eben einen heimatlosen Olivenbaum vorzustellen,
der sprechen kann.
http://ting.baidu.com/player/index.html?__methodName=mboxCtrl.playSong&__argsValue=1085111&fr=mp3
Und wenn ich schon über Namen zur Heimat gefunden habe …
diesen noch, «Hallelujah»,, ein (zufällig auch in Gefühlen schwelgendes)
Lied, das ich zu Hause in Basel schon hundertfach gehört hatte und das mir vor
Monaten, an einem heissen Sommerabend in Shihezi von jenseits der Strasse aus einer
Bar ganz unerwartet in meine Wohnung getragen wurde. Auch in einem Lied ist
Heimat, dachte ich da, es braucht nicht viel, sich zu Hause zu fühlen.
http://music.sina.com.cn/yueku/s/18715.html
PS An der gelben
Geschäftsfassade mit dem einen ellenlangen Wort bin ich in meiner dritten Woche
in Shihezi vorbeigekommen, als ich noch gar
keine Ahnung hatte und mir daher alles
frisch zusammenreimte. Einen längeren chinesischen Familiennamen werde ich
nicht finden, sagte ich mir damals. Heute weiss ich, dass das viele Wörter sind
und dahinter eine Spielhalle steckt.