Zu den üblichen Irrtümern des Fremden zählt die Erwartung, das
Leben sei hier wie dort doch irgendwie gleich organisiert und aus der Heimat
bekannte Handlungsmuster und Verhaltensweisen hätten universellen Charakter; dies
wider besseren Wissens und sogar entgegen eigener Bekundungen (die in ihrer
Generalisierung genauso falsch sind und auf die Behauptung hinauslaufen, dass
in China halt alles ganz anders sei).
Wie auch immer, ich war wandern. Das geht in Shihezi so,
dass man zuerst einen Kleinbus besteigt, etwa zwei Stunden lang fährt und dann
in einem der zahlreichen Wandergebiete ist. Im Bus würde es Sonntagmorgens um 8
Uhr ruhig zugehen, dachte ich mir, wie in der Schweiz halt, wo ein um diese
Zeit (und eigentlich auch sonst) in Bus, Zug etc. laut sprechender Mensch sehr
schief angesehen wird. Aber die vielleicht 25 Chinesen, die mit mir im Bus sitzen,
denken nicht daran, auf der Fahrt vor sich hinzudösen, Zeitung zu lesen oder korrekt
verstöpselt Vivaldi zu hören, oh nein, im Nu entwickelt sich auf engstem Raum
ein irrsinniger Lärm, der durch spontane Verbrüder- und Verschwisterungen unter
den Passagieren, durch Telefongeschrei, Musik und mitgesungene Lieder, durch
Gedichte rezitierende Kinder und Hundegebell zustande kommt.
Erst tue ich so, als ob mich das nichts anginge. Dann würde ich
am liebsten schreien. Oder fliehen. Oder jemanden hauen. Aber schliesslich beruhige
ich mich mit dem Gedanken, dass ich später, in den Bergen, in der Stille der
Natur, in dieser immer näher kommenden, traumhaft schönen Berg- und Tal-Landschaft,
die mal in ihrer Kargheit an den Mond erinnert und dann mit endlosen
Blumenwiesen, Schmetterlingen und vielfarbigen Vögeln auftrumpft… dass ich dort
dann allein wäre, ganz allein, dass ich endlich meine Ruhe hätte und ginge,
wohin es mir beliebte.
Ein Irrtum, abermals. Sei es nun, weil es viel zu gefährlich
wäre, auf eigene Faust loszumarschieren (man könnte sich verirren, über steile
Felsen zu Tode stürzen, wahlweise von Wölfen oder Braunbären zerfleischt werden
– warnte man mich) oder weil das dem Chinesen nicht so liegt. Jedenfalls
hecheln wir einem ortskundigen Führer mit roter Fahne hinterher, der leider
Gottes aber nicht nur auf optische, sondern auch auf akustische Signale setzt.
In der Seitentasche seines Rucksacks führt er nämlich einen kleinen, sehr
potenten Musikspieler (was sag ich, eine Sound-Maschine mit brachialen Bässen)
mit.
Da ist man also irgendwo, fern der Stadt, in sozusagen
unberührter Natur und es könnte still sein, so still, wenn dieser Mensch mit
seiner Lärmbox nicht wäre (dass die ganze Gruppe bei einem Musikstück, das alle
(ausser mir natürlich) kennen, aufschreit und beherzt mitsingt, macht die Sache
auch nicht besser). Ruhe ist hier also nicht. Und: Man ist nie allein. Gehen,
rasten, fotografieren (beliebtes Motiv: Gruppenbild mit echtem laowai), essen
natürlich, sprechen, lachen, wieder rasten oder wahlweise noch einen Berg
besteigen – alles in der Gruppe. Und am Ende, auf ein Trillerpfeifensignal hin,
in drei Reihen vor dem Führer antreten, durchzählen, den Bus besteigen.
Auf der Rückfahrt, die dann doch etwas ruhiger verlief, sagte
ich mir, dass das ein richtig schöner Tag war. Jedenfalls von dem Moment an,
als ich mich auf das chinesische Wandermodell einzulassen vermochte, einige
Kontakte knüpfte, die üblichen Fragen beantwortete und zu einem Teil der Gruppe
wurde. Ab da war alles gut.