Auf dem Netz der Chinesischen Eisenbahn verkehren Züge mit
einer ersten und einer zweiten Klasse. Nur dass diese hier nicht so genannt,
sondern, viel anschaulicher, mit «Ruanzuo» und «Yingzuo» bezeichnet werden, was
in etwa «Weichsitz» und «Hartsitz» bedeutet.
Möglich, dass es früher in Chinas Zügen auch richtig harte
Sitze gab. Heute aber liegt der Unterschied zwischen hart und weich in der
Dichte der Sitzreihen pro Waggon bzw. darin, dass in der komfortablen
«Ruanzuo»-Klasse nur so viele Tickets verkauft werden wie es Weichsitze hat, es
somit, anders als bei «Yingzuo»-Fahrscheinen, keine Stehplätze geben sollte.
Das gleiche System – natürlich ohne Stehplätze – kommt übrigens auch in
Schlafwagen zur Anwendung, nur dass hier von «Ruanwo» (vier Liegen pro Abteil)
und «Yingwo» (deren sechs) die Rede ist.
Dies vorausgeschickt und bedacht kann die Reise nun endlich
beginnen, in unserem Fall eine nächtliche Fahrt von Shihezi ins etwa 600 km
entfernte Yining, unweit der Grenze zu Kasachstan, für die unser Zug achteinhalb
Stunden braucht (dass es sich dabei um keinen der supermodernen chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge
handelt, ist nun auch klar). Wir fahren übrigens «Yingzuo». Wer, wie ich, auf
nächtlichen Bahnfahrten sowieso Mühe mit dem Schlafen hat, kann geradeso gut
auf einem harten und sehr günstigen Sitz (70 Yuan für einen Weg) nicht
schlafen.
Zu fünft (drei Erwachsene und zwei Kinder) haben wir drei
Sitze und in der Reihe uns gegenüber ist die Lage ähnlich. Dort sitzen eine
junge Frau, ein schön anzusehendes, sehr verliebtes Pärchen und eine Mutter mit
ihrer vielleicht achtjährigen Tochter, die beide auch mal auf den Boden des
Mittelganges ausweichen. Dort, wie auch sonst überall, wo es ein freies
Plätzchen gibt, stehen, hocken oder liegen Leute, also auch zwischen den Sitzreihen,
vor (und ich vermute: in) den Toiletten und in der Verbindung zwischen den
Waggons. Der Zug ist nach europäischen Massstäben heillos überfüllt, und ich
versuche mir lieber nicht vorzustellen, was mit uns passiert, wenn etwas passiert.
Die peniblen Sicherheitskontrollen im Bahnhof jedenfalls (bei denen man mir
mein Schweizer Messer abnahm) erscheinen mir in diesem Zusammenhang als, na ja,
unverhältnismässig.
Und doch hat auch hier das Schlechte mal wieder ein Gutes.
Wer nämlich solche Zustände nicht kennt und, das dürfte ganz normal sein,
zunächst einmal in einen Schockzustand verfällt, dann mit Panikwellen, Fluchttendenzen
und Aggressionen zu kämpfen hat … um sich schliesslich, das bringt ja alles
nichts, ins Unvermeidliche zu fügen (und nebenbei bemerkt alle Hoffnung fahren
zu lassen, während der nächsten acht Stunden auch nur in die Nähe einer
Toilette zu gelangen), wer eine solche Zugfahrt also zum ersten Mal erlebt
– der wird auch das Gemeinschaftliche dabei stärker empfinden, wie die Menschen
(übrigens nicht nur Han-Chinesen, sondern auch Uiguren, Kasachen, Hui usw.)
sich in vielerlei Hinsicht näher kommen, miteinander streiten, sprechen und
lachen, Essbares austauschen, grossmütig ihren Platz anbieten oder sich (mich)
einfach nur anlächeln … bis sich dann irgendwann nach zwei oder drei Uhr
morgens eine Ruhe in diesem durchs nächtliche Xinjiang gondelnden Zug
ausbreitet, eine Harmonie und ein Frieden, die einen ans Gute im Menschen und
ans Gute überhaupt denken und für ein paar Minuten beruhigt schlummern lassen.