Ich war noch nicht lange in Shihezi, da wurde mir von einem
Chinesen ein Begriff genannt, der «the
core of Chinese society» sein soll, also
geradewegs in ihr Herz führe. Es handelt sich dabei um «guanxi», vielleicht am
zutreffendsten mit «Beziehungen» übersetzt. Seither hatte ich Gelegenheit
genug, das guanxi-System, dieses weit reichende Netz aus Verbindungen, aus Abhängig-
und Gefälligkeiten, etwas zu studieren (ich sage nicht: zu verstehen), will hier aber nicht ins Detail gehen.
Deshalb nur ein garantiert fiktives Beispiel zur
Veranschaulichung: Der Chinese A möchte seine Tochter in einer Mittelschule
unterbringen, die ihr jedoch, warum auch immer, nicht offen steht. Nun erinnert
sich A seines Onkels B, der gewöhnlich sehr gute Kontakte zur Obrigkeit hat.
Und in der Tat, B. kennt in der Schulbehörde den Beamten C., der in dieser
Sache freilich ganz machtlos ist, aber gute Beziehungen zu D. pflegt, dem er,
C., vor nicht allzu langer Zeit zur Festigung der Freundschaft sündhaft teure
Flusskrebse hatte zukommen lassen, sodass nun also D. (der zufällig mit A. im
selben Dorf aufwuchs, diesen aber seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat) bei
E., dem Entscheidungsträger in dieser Angelegenheit und D. wegen irgendetwas
auf ewig verpflichtet, ein gutes Wort für A. einlegen wird.
So geht das, so wichtig ist guanxi, ja, unverzichtbar. Übrigens gut möglich, dass am Ende A. und E
ihre wieder aufgenommene Beziehung (und des Töchterchens Wechsel zur
Mittelschule der Wahl) bei einem Gläschen oder zwei, drei feiern. Das Hilfs-
und Schmiermittel zur Pflege von guanxi aber ist Baijiu, ein klarer, starker
Schnaps.
Ich entsinne mich einer Einladung zum Abendessen, die, so vertraute
mir der Gastgeber an, hauptsächlich der Pflege seiner Beziehungen diente und in
deren Verlauf ich Zeuge einer Art Wett- und Kampftrinkens wurde, bis die
augenscheinlich wichtigste Person im Kreis der um einen runden Tisch Versammelten
sich nur noch von links und rechts gestützt zum Trinkspruch («ganbei»,
萬歲 … etc.) erheben
konnte. Dieser auf mich recht unfroh, trotz bedeutender Mengen Alkohols
verkrampft, mindestens aber seltsam wirkende Abend sei, so versicherte mir der
am Ende auch schon merklich angeschlagene Gastgeber, ein voller Erfolg gewesen.
Nun könne er sich bis auf Weiteres wieder einiger wichtiger Leute sicher sein.
Dass ich selbst an diesem Abend den Baijiu-Gruss der
Respektsperson von jenseits des Tisches mit meinem «Wusu»- Bier erwiderte
(ich mag nun mal keinen Schnaps), sei, so klärte man mich später auf, ein schwerer
Fehler gewesen. Durch den nicht nur ich selbst mein Gesicht, meine Männlichkeit
und alles verlor, sondern, was viel schwerer wiegt, diesem wichtigen Mann sein
Gesicht genommen hätte. Da kann ich nur hoffen, dass ich seiner Hilfe nie
bedarf, sein Einfluss doch nicht gar so bedeutend ist oder er nach diesem kapitalen
Rausch vergessen hat, was der ungehobelte Schwede (die Schweiz wird hier gern
mit Schweden verwechselt) ihm antat.