Plötzlich ist der Frühling da. Und da mögen hier Heimische noch
so hartnäckig daran festhalten, dass es den Frühling in Shihezi gar nicht gebe
(wie übrigens auch den Herbst nicht), ich meine, wie soll man das nennen, wenn
es täglich wärmer wird, wenn das Eis und die Schneehaufen wegtauen, wenn frühmorgens
ein paar einzelne, winterharte Vögel ihre Lieder anstimmen (bekannte Weisen
übrigens!) und einige Unerschrockene sich bereits die wattierten Jacken vom
Leib reissen?
Welche Jahreszeit herrscht also, wenn das Thermometer tagsüber
schon 12 Grad erreicht und nachts nur noch auf wenig unter Null sinkt? Das ist
doch nicht mehr dieser grimmige, gefürchtete Xinjiang-Winter mit seinen bis zu
minus 40 Grad … und noch nicht der heisse, trockene Sommer, der Wassermelonen
und Trauben und alle anderen Früchte zur Reife treibt, für die diese Provinz in
ganz China berühmt ist!
Ich bleib also dabei, der Frühling, muss aber gleichzeitig
alle Frühlingsenthusiasten ein wenig enttäuschen, den Idyllikern etwas Braun
und Schwarz unter die Farben mischen. Denn braun und wie tot ist das Gras, das
unter der Schneedecke zum Vorschein kommt und inzwischen rabenschwarz der
Schnee (ich habe eine Kohle verarbeitende Fabrik ganz in der Nähe im Verdacht),
der im Übrigen Monate lang Unmengen von Unrat zudeckte, die nun peu a peu ans
Licht kommen.
So hat der Frühling allhier – oder was es auch immer ist –
etwas Ehrliches und Ungeschminktes, etwas Aufdeckendes und Enthüllendes. Wofür ich
ihn auch ausdrücklich loben und ein bisschen lieben will. Dass er andererseits
mit Farben und Wohlgerüchen geizt, ja, keine Anstalten macht, auch nur ein
einziges Blümchen aus der Erde zu locken, kein Schneeglöckchen und kein
Veilchen, kein Gänseblümchen und keinen Persischen Ehrenpreis (Veronica
persica) – macht ihn schon viel weniger sympathisch.