Der italienische Botschafter hat zum
Abendessen geladen. Sergio kontrolliert, bei welchem Helligkeitsgrad man die
Flecken auf seiner Hose erkennen kann, und dann öffnet sich tatsächlich ein
Atrium auf einen Swimmingpool und aus dem Halbdunkel einer edlen Couchecke
kommen die Gäste des Abends auf uns zu. Ein italienischer Journalist, der
gerade für die Weltbank einen Rechercheauftrag in Aceh durchführt. Ein
amerikanischer Fulbright-Stipendiat und Videokünstler, der mit einem Tänzer aus
Jakarta eine Kohlenstoffperformance zum Klimawandel vorbereitet, und seine
indische Frau. Zwei Mitarbeiter der Botschaft. Sergio und ich. Und der
Botschafter, der ein schwarzes T-Shirt mit Reisbauernhüten trägt und eine Zigarre
im Mundwinkel hängen hat. Seine blutjunge kubanische Frau, die gleichzeitig
wie ein Mädchen lacht und ihre Repräsentationsküsschenwange hinhält. Aperitif
und Fisch und das Bemühen, die Bestecke richtig zu benutzen. Was soll das alles.
Eine Verpflichtung dem Amüsement der italienischen Landsleute gegenüber? Eine
Versammlung diffus „interessanter“ Menschen, die sich zufällig in Jakarta
befinden? Gelegenheit zum Networking? Der indonesische Diener nähert sich von
hinten und flüstert „bianco o rosso?“, der Botschafter schärft seinen Witz am
Weltbank-Journalisten, der seinerseits schwindende Haare und schwindende Jugend
mit Großkotzigkeit wettzumachen weiß, und das Gespräch hakt sich allen Ernstes
an dessen bevorstehender Hochzeit fest und welche Pastoren wann in welchem
norwegischen Kaff engagiert worden sind. Einladung generös, Haus grandios,
Essen erlesen, Gäste angemessen anregend, und die in den Knochen stecken
bleibende Frage, was wir um Himmelswillen miteinander zu schaffen haben sollten.
Einen Tag später, als der
Italiener in sein Schlammloch auf Sumatra zurückgekehrt ist, frage ich Eka, die
Rezeptionistin der Jakarta Post, wo
ich am Wochenende hinfahren soll. Sie strahlt: „Solo! That’s where my husband
is from.“ Der Name gefällt mir und so beschließe ich, programmatisch nach Solo zu fahren. Acht
Stunden geht es in östlicher Richtung durch Java, durch die dicht besiedelten
Landstriche dieser reichsten Insel Indonesiens, vorbei an Reisfeldern, durch
die Erntehelfer wie langsame Schwimmer pflügen und auf- und abtauchen, vorbei
an Erdnussfeldern und durch schwarze Regenhimmel, aber das wahre Glück ist Ika
Ruri. Ika Ruri sitzt neben mir, sie ist Buchhalterin in einer Immobilienfirma
am Pasar Baru in Jakarta und mag Gedichte und den indonesischen Rapstar Ika R. Für
den Nationalfeiertag schreibt sie manchmal kleine
Singspiellibretti für ihre Nachbarschaft, Cinderella, Die Stiefmutter und
Schneeweißchen, doch in den letzten Jahren ist sie nicht mehr dazu gekommen, zu
müde von einer Arbeit, die ihr sinnlos erscheint. Eine der Zugbekanntschaften
also, von denen sich über die Jahre viele kleine Charakterisierungen in Tage-
und Notizbüchern angesammelt haben.
Ika Ruri jedoch weigert sich,
eine Zugbekanntschaft zu sein, das ist nicht ihr Stil. Sie bleibt in der
Wirklichkeit und schreibt mir schon am nächsten Morgen, als ich auf der
Hauptstraße von Solo dem Freiheitskampf gegen die
Holländer am 12. November 1945 unter Ignatius Slamet Riyadi beiwohne, eine SMS,
ob ich nicht nachmittags mit ihr in ihr Dorf kommen wolle. Auf der Hauptstraße
manifestiert sich gerade eine Marktszene, Mädchen in Sarongs führen
offensichtlich erfundene Hüpfspiele aus, Männer mit Dreck im Gesicht und etwas
zu demonstrativ zerrissenen T-Shirts lassen zwei Hähne aufeinander losgehen,
Frauen breiten Tücher auf dem Boden aus und verkaufen Gemüse, drei Statisten
kringeln mit dem Fahrrad durchs Bild. Die Szene glauben sie sich offensichtlich
selbst nicht und das Publikum am Straßenrand grölt vor Begeisterung. Dann
kommen Jeeps mit der Kolonialmacht angefahren, mit Holländern
also. Diese Holländer haben blonde Perücken auf dem Kopf und ballern wild in
die unschuldige Menge. Während auf der Straße so echt wie möglich gestorben
wird und kichernde Marktfrauen von der Szene rennen, formiert sich der
indonesische Widerstand. Mit weißroten Bandanas im Haar, das Maschinengewehr im
Anschlag kommen sie von einem Zug gesprungen, der, dramaturgisch ungünstig,
direkt vor der Zuschauertribüne zum Stehen kommt. Aber das ist egal, denn es
geht hier weniger ums Zuschauen als ums Dabeisein, und so werden die Holländer
kurzerhand mit Handgranaten vernichtet und die Straße verwandelt sich in ein
rot-weißes Meer tanzender Männer, die „Merdeka!“, Sieg, schreien. Und hier sind sie ganz bei sich, der Sieg über die
Kolonialmacht ist in den gestreckten Körpern und jubelnden Gesichtern 62 Jahre
später immer noch sichtbar.
Ene und ihrem Mann hingegen geht es um Tina, ihre
zwölfjährige Tochter, die mit ihrer Klasse schon das dritte Mal aufmarschiert
ist, um die Nationalhymne zu singen, aber dann jedes Mal aufgrund nicht
durchsichtiger dramaturgischer Neuplanungen, wieder abmarschiert ist. Ene und
ihr Mann harren aus, kaufen mir ein kleines Essenspaket und nehmen mich immer
wieder an der Hand, um zu einem besseren Sichtplatz zu gelangen. Sie sind das Vorspiel
oder Exemplarische für eine Herzlichkeit und Großzügigkeit, die mir ein ganzes
Wochenende lang den Atem verschlagen wird.
Denn Ruri kommt und holt mich ab
in ihr Dorf. Aber es ist kein Dorf. Am Ende einer einstündigen Autofahrt steht vielmehr
das zweihundertjährige Elternhaus ihres Vaters. Ringsum Hügel und Wald,
Erdnuss- und Mangobäume, Hühner in Harakiri-Sprüngen über der Straße, grüne
Wiesen, grüne Luft, grüne Schmetterlinge. Die Terrasse bevölkert mit
Blumentöpfen und rauchenden Männern, mit unsichtbaren Bewegungen werden die
Sandalen abgestreift bevor man in die Wohnhalle geht. La Mamma, Ibu, die Frau
des Hauses: das Gesicht weißgeschminkt, rote Lippen, Schweißperlen zittern über
der Schminke wie durchsichtige Perlen, wie Tau, wie Regentropfen, zittern, wenn
sie lächelt und bleiben doch an ihrem Platz, ein zusätzlicher Schmuck des
Gesichts. Der Vater mit gestutztem Schnurrbärtchen, Goldbrille, riesigen
Klunkern an den Fingern, beide sprechen Javanisch und ich bekomme nur durch
Ruri mit, was sie wissen oder mir Gutes tun wollen. Beide ruhen in ihrem Stolz,
jedes zweite Wort ist „Java“ und jede Anweisung ist darauf bedacht, mir eine
Freude zu machen. An einem kleinen Katzentisch bekomme ich aus vielen Schüsseln
zu essen, silakhan, silahkan, bitteschön, bitteschön sagt Ibu. Immer wieder
werde ich an diesem kleinen Tisch platziert, offensichtlich isst die Familie
nicht zusammen, der Vater speist allein im Wohnzimmer, die Männer auf der Terrasse,
Ibu für sich vor dem Fernseher. Abends fahren wir hinunter ins Dorf, damit ich
Ayam Soto probiere, Hühnersuppe, dazu Tee in kleinen grün emaillierten Kannen,
in dem sich riesige Klumpen Zucker auflösen. Ich sage, dass mir diese Kannen
gefallen, am nächsten Morgen auf dem Markt werden mir zwei davon erworben, ich mache
den zweiten Fehler und kaufe mit Hilfe von Ibu und Ruri einen langen Rock,
später kommt Ibu und gibt mir das Geld dafür, denn ich sei ihr Gast und sie
wolle mir den Rock gerne schenken. Auf der Terrasse sitzend werden frisch
gepflückte Mangos für mich geschält, ich muss entscheiden, welche ich am
liebsten mag, dann wird eine große Tüte gepackt, die ich mit nach Jakarta
nehmen soll. Genau wie die frittierten Gebäckstücke, eine Flasche süßen Tees
und drei CDs auf der Ruri und ihre Schwester Ririn gemeinsam mit anderen
indonesischen Sängerinnen javanische Volkslieder singen.
Zwangsläufig gerate ich in jene
tiefe Hilflosigkeit, mit der meine kulturelle Konditionierung auf ein solches
Aus- und Unmaß an Gastfreundlichkeit antwortet, erst nach und nach verstehe ich, dass alles, was von mir erwartet wird, lediglich
ein bisschen gezeigte Freude und etwas Unterhaltung ist. Sie freuen sich, dass
ich immer neue Vokabeln für die Großartigkeit der mir präsentierten Speisen im
Wörterbuch suche, sie freuen sich, wenn ich nach den Bergen und Pflanzen und
javanischen Ausdrücken frage, sie freuen sich, wenn ich mir zum vierten Mal den
Kopf am niedrigen Türstock anschlage, sie freuen sich, dass ich auf den Markt
mitkommen will und dort bereitwillig ein exklusives Schauobjekt darstelle, sie
freuen sich, dass es weder Erdnussbäume noch Reisfelder noch Gläser mit Deckel in
Deutschland gibt (überhaupt gerate ich in eine unangenehme Negationsschleife,
was es alles in Deutschland nicht gibt, nur mit Fahrradwegen kann ich Ruri kurz
beeindrucken. Erst als wir zu dritt auf dem Mofa ohne Helm die Hügelstraßen
hinunter rasen, Ruri nebenbei telefoniert und ihrem vierjährigen Bruder zeigt,
wie er lenken soll, finde ich ganz allein vor mich hin, dass deutsche
Sicherheitsstandards unendlichen Charme haben). Auf der Terrasse betrachten die
Männer mein Wörterbuch, kichern die Mädchen, wenn ich sie anlächele und wiederholen
sich alle einen Satz, den ich gesagt oder eine Frage, die ich gestellt habe. Während
einige der Männer aus dem Dorf die Anrede „Miss“ für alles Weiße und Fremde
nicht aufgeben, begegnet mir die Familie mit einem selbstverständlichen Stolz.
Neben einem Gast bin ich auch Zeugin ihres Standes, ihres Besitztums, ihres
Landes. Und das ist nicht Indonesien, sondern Java. Als ich ihnen aus dem Lonely Planet vorlese, dass die Menschen
aus Solo zu den freundlichsten in ganz Indonesien gehören, nicken sie
freundlich, aber ungerührt, wer hätte schließlich etwas anderes erwarten sollen.
Auf dem Weg zurück, den Rucksack
voller Mangos, erinnere ich mich noch einmal an den Abend beim italienischen
Botschafter. Welten, na klar. Nationen, Kulturen, Bruttoinlandsprodukt und so
weiter. Aber auch, dass mir in den Hügeln im Haus des stolzen Bapak Jajar
Margono die natürliche Frage, was sie um Himmelswillen mit mir zu schaffen
haben sollten, nicht in den Sinn gekommen wäre.