Dass ich doch Heimweh habe, merke
ich daran, dass ich bei jeder ins Bild geratenden römischen Straßenansicht in
Tränen ausbreche, unabhängig davon, ob ich sie erkenne oder nicht. Gleichzeitig
bietet sich die Gelegenheit für einen Kulturschock, allerdings diesmal aus der
anderen Richtung.
Es ist Europäisches Filmfestival, initiiert von den
ausländischen Kulturinstitutionen, dem Goetheinstitut, dem Erasmushuis, dem
Istituto Italiano di Cultura und dem Centre Culturel Francais, und
Sonntagmittag gehe ich hin und schaue mir „Catarina va in città“ von Paolo
Virzi an. Es ist ein Film über ein dreizehnjähriges Mädchen aus der Provinz,
das mit ihren Eltern nach Rom kommt und sich dort zwischen den fiesen Gören in
ihrer Klasse arrangieren muss. Eine weltweit bekanntes soziales Ärgernis
offensichtlich, denn die etwa dreißig Indonesier um mich herum lachen an den
richtigen Stellen und machen auch sonst nicht den Eindruck, besonders verstört
zu sein.
Ich bin es dafür umso mehr, denn was wir da sehen, muss für einen noch
so gebildeten Jakartaer Zuschauer völlig unverständlich sein. Was wir sehen
sind römische Zecken und römische Faschisten und römische Edelkommunisten, was
wir da sehen, sind römische Familienszenen und Hochzeiten und Demonstrationen
und ich denke an die fünf Jahre, die ich gebraucht habe, um das alles nicht
einfach nur exotisch zu finden. Denke an die Zecken- und die Technophasen von
Sergios Nichten, an die Farben ihrer Unterhosen über den Baggypants, an ihren
unverständlichen Slang und ihr Verschwinden auf die nächtlichen Straßen, denke
an meinen Streit mit einem Polizisten auf der Piazza del Pantheon über den
Hitlergruß der dort aufmarschierten Alleanza Nazionale, denke an die
händchenhaltenden Großmütterchen und Großväterchen mit ihren unermüdlichen roten
Schals auf den Sommerfesten von L’Unità, denke an den Blick der reichen
Römerinnen zwischen Viminale und Quirinale auf meine Turnschuhe, denke an den Stolz,
mit dem Sergio die Verfehlungen der italienischen Politik der letzten 50 Jahre
aufzählt, denke an die unverständlichen Anschlagtafeln der Philosophischen
Fakultät der Universität La Sapienza, denke an – und will die neben mir
sitzende und freundlich zuschauende Indonesierin am Arm schütteln und darauf
aufmerksam machen, dass das hier nicht einfach nur irgendein europäischer Film
sei, sondern alles wirklich – ja was? Mit einem Kloß im Hals zurück auf die
glühende Straße gehen, in eine krakeelende Horde kleiner Schwimmbadjungs
geraten, die sich zwei Kilometer lang über meine Gestalt und mein Gestammel und
mein Dasein insgesamt totlachen und die Fremdheitserfahrung wirken lassen:
sprachlos zu wissen, wie alles woanders ist.
Mit den Mädchen allerdings wird
es besser. Die Läden der ganzen Stadt sind beherrscht von Mädchen. Sie passen
Brillen an und verkaufen Parktickets und Malariamedikamente. Sie sitzen an den
Kassen und Informationsschaltern, sie tragen Pferdeschwanz und Uniformen und in
den Gesichtern weiche Züge, die verraten, dass sie alle nicht älter als zwanzig
sind. Aus einem kleinen Warung, einem Essenslädchen, das hinter der Mauer liegt,
hole ich manchmal abends Essen: Fisch, rot eingelegte Miesmuscheln, scharfe
Bohnen, Sampal, 6000 Rupien. Das erste Mal, das ich den Laden betrat,
erstarrten die beiden Mädchen hinter der Theke zu Salzsäulen, nur um gleich
danach in jenes hysterische Gelächter auszubrechen, das verrät, dass man noch
nicht über sechzehn ist. Sie konnten mich nicht bedienen, der Vater traute sich
auch nicht, bis schließlich die Mutter aus den hinteren Gefilden kam, Reis
auffüllte und mich herrisch ansah, dem Theater ein Ende zu machen, indem ich
ihr sagte, was ich wollte. Die Mädchen hörten nicht auf zu kreischen und mit
dem Finger auf mich zu zeigen, der Vater lachte nun auch aus vollem Hals, und
ich hätte gerne, wie schon öfters bei solchen Gelegenheiten, gesagt, dass das
in Deutschland ein bombensicheres Mittel sei, nicht nur seine Kunden
loszuwerden, sondern sich auch eine Beleidigungsklage aufzuhalsen. Aber zum
Glück kann ich ja nichts sagen, sondern ging nur trotzig am nächsten Abend
wieder hin. Diesmal schob der Vater gleich die Mutter vor, um dem nächsten
Kollaps seiner Töchter vorzubeugen, aber beim dritten Mal waren sie alleine. Zu
zweit trauten sie sich, eine füllte den Reis auf, dann verharrten sie ganz
still und beobachteten mich wie hypnotisiert, was ich wohl tun und worauf ich zeigen würde. Das eigene
Lächeln wie eine weiße Fahne schwenken und tatsächlich - beim vierten Mal erkennen sie mich offiziell
wieder und begrüßen mich. Als ich dann „apa kabar“ sage, wie geht es, und
„dimana ibu“ wo ist Mama, da müssen sie noch einmal losprusten, dann aber
antworten sie tatsächlich - gut, schläft
- und ich trage das schwarze
Plastiktütchen mit einem Hochgefühl nach Hause.